Es begann ganz harmlos

Zuerst rissen die Mülltüten, immer wieder, in verschiedenen Ortschaften nahe Berlin. Als die ersten genervten Kunden sich bei den Supermärkten über die Sauerei im eigenen Heim beschwerten, dachte man zunächst an einen Produktionsfehler. Das Gleiche passierte aber bald auch in München, in Flensburg, in anderen Ländern. Die Tüten waren von unterschiedlichen Firmen hergestellt worden und wirkten wie von Motten zerfressen. Das Rätsel der platzenden Müllsäcke führte zu einer Reihe scherzhafter Glossen in den Tageszeitungen. Das Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung beantragte Forschungsgelder, um den mysteriösen Lochfraß genauer zu untersuchen.

Der Antrag war kaum eingereicht, da geriet die Welt ins Wanken. Zuerst vereinzelt, dann immer öfter brach in Firmen und im Wohnzimmer die Internetverbindung zusammen. Telefongespräche waren plötzlich verzerrt oder verstummten gänzlich. Die Fernsehbilder flackerten, immer wieder starrten die Zuschauer auf schwarz-weißes Schneegestöber. Die Störungstechniker kamen dem Fehler schnell auf den Grund: In allen Fällen war die Kunststoff-Ummantelung der Signalkabel wie zerfressen. Damit nicht genug. Mitten in der Fahrt blieben die ersten Autos mit durchlöchertem, leerem Tank stehen. Immer öfter rissen nun auch die Einkaufstüten, Lebensmittel verdarben wegen undichter Verpackungen. Putzmittel und Shampoos liefen als schmierige Soße aus ihren durchlöcherten Flaschen. Die ersten Kleidungsstücke zerfielen.

Weltweit begannen nun unzählige Wissenschaftler, das erschreckende Phänomen zu erforschen. Die Bundesregierung stellte in ungewohnter Entschlossenheit eine interdisziplinäre Taskforce zusammen. Chinesische Wissenschaftler fanden als Erste des Rätsels Lösung: Ein zuvor unbekanntes Bakterium hatte gelernt, die langen Kohlenwasserstoffketten von Polyethylen zu spalten und sich von den Bruchstücken zu ernähren. Alles, was aus diesem Kunststoff hergestellt war, verrottete nun in atemberaubender Geschwindigkeit.

Wie der Einzeller in die Welt gekommen war, wurde niemals geklärt. Einer Theorie zufolge entsprang die zerstörerische Mikrobe einem der neuen Labors, in denen Gentechniker künstliche Organismen züchteten. Um des Müllproblems Herr zu werden, wäre ein Plastikfresser tatsächlich willkommen gewesen – wenn er nicht einen solch unerhörten, unkontrollierbaren Appetit an den Tag gelegt hätte.

Die Verschwörungstheorien trieben reiche Blüten. Hartnäckig hielt sich die Version, nach der die »Plastikmotte« von religiösen Fanatikern in die Welt gesetzt worden war, als Angriff auf die Konsumkultur. Manche Biologen plädierten dagegen für eine ganz normale Evolution der Plastikfresser.

»Plastik« ist eigentlich ein umgangssprachlicher Ausdruck für Kunststoff. Der besteht aus langen Ketten von immer gleichen Molekülen. Die wiederkehrenden Einheiten bezeichnet man auch als »Monomere«, die Molekülketten als »Polymere«, und viele Bezeichnungen für Kunststoffsorten beginnen aus diesem Grund mit der Silbe »Poly«. Die Monomere gewinnt man in der Regel aus Erdöl; Plastik besteht daher im Wesentlichen aus Kohlenstoff-Atomen. Je nach zusätzlichen Atomen und seitlichen Verzweigungen unterscheiden sich die Kunststoffsorten.

In den langen Kohlenstoffketten steckt viel Energie, wie jeder weiß, der einmal einen Haufen Plastik hat brennen sehen. Daher gibt es kein prinzipielles Hindernis, warum sich ein Organismus nicht von Plastik ernähren sollte. Allerdings gibt es Kunststoffe erst seit einem guten Jahrhundert, und Polypropylen wurde erst 1940 erstmals in größeren Mengen hergestellt. Die Verdauungsenzyme der irdischen Organismen hatten sich in den Jahrmillionen zuvor auf natürliche Polymere wie Stärke, Eiweiße und Zellulose eingestellt. Nun hatte einer sich angepasst. Einige Pedanten beharrten hartnäckig darauf, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könnte: Ein für Wasser undurchdringlicher Stoff dürfte sich niemals in solcher Geschwindigkeit zersetzen.

Ob nun Laborgeschöpf oder Rache der Natur – gerade als die meisten Kabel geflickt und Polyethylen weitgehend durch andere Kunststoffe ersetzt war, geschah etwas Furchtbares: Der Plastikfresser mutierte. Als Erstes fiel es vermutlich den Gärtnern auf, deren Pflanztöpfe plötzlich zu Krümeln zerfielen. Dann bröckelten die Spoiler von den Autos, und die Gaspedale zerbrachen. Waschmaschinen, Kühlschränke und andere Küchenmaschinen verweigerten den Dienst. Klodeckel zersprangen, und überraschend fielen sogar Holzmöbel mit Kunststoffscharnieren in sich zusammen. Der Lochfraß erreichte schließlich die Gehäuse von Computern und Bildschirmen, und es wurde klar, dass die Mikrobe eine neue Fähigkeit besaß: Sie konnte nicht nur Polyethylen, sondern auch Polypropylen zersetzen.

Fast jeder hat die kleinen Kürzel PE und PP schon einmal auf Verpackungen gesehen. Die beiden Kunststoffe sind in ihrer Molekularstruktur sehr ähnlich, weshalb es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis sich das Verdauungsenzym des Plastik-Killers angepasst hatte. Schließlich haben sogar Menschen seit Beginn der Viehzucht in Europa die Fähigkeit erlangt, Milch auch im Erwachsenenalter zu verdauen. Bakterien aber, die sich im Halbstundentakt teilen, mutieren viel, viel schneller. Die verzweifelte Menschheit war daher kaum noch überrascht, als die Zerstörung weiter um sich griff.

Mikrobiologen konnten zu diesem Zeitpunkt nur noch spekulieren: Die meisten ihrer Reaktionsgefäße, Pipetten und viele weitere Labor-Utensilien waren längst unbrauchbar. Als gesichert gilt, dass der Plastikfresser als Nächstes die Polyester-Bindung geknackt hat. In allen altmodischeren Kinosälen blieben die Leinwände dunkel, weil die Filmrollen gerissen waren. PET-Flaschen zerfielen, Supermärkte mussten mangels Verpackungsmaterial ihren gewohnten Betrieb einstellen. Auch vor Polycarbonaten machte der Fraß nicht halt: DVDs und CDs wurden quasi über Nacht unbrauchbar. Autos verloren ihre Scheinwerfer, sogar einige Teile der Karosserie. In einem spektakulären Knall zerbarst der Himmel über dem Olympiastadion in München. Den Hauptbahnhof in Köln hatte man vorsorglich evakuiert, als seine Überdachung das gleiche Schicksal ereilte.

Als das Polyvinylchlorid verschwand, ging es ans Eingemachte. Nicht nur Fußböden und Fensterrahmen zerfielen, vielerorts brach die Wasserversorgung wegen durchlöcherter Rohrleitungen zusammen. Fast alle Stromkabel waren inzwischen unbrauchbar, die Datenströme rund um die Welt versiegten, als die PVC-Ummantelungen der Glasfaserkabel nachgaben. Am schlimmsten aber war, dass in den Krankenhäusern der Betrieb zusammenbrach. Ob Einmalspritzen, Teststäbchen, Schläuche, Infusionsflaschen, Katheter – das meiste in Krankenhäusern und Arztpraxen bestand aus Kunststoffteilen, vorgefertigt und steril in Plastik verpackt für den einmaligen Gebrauch. Selbst Blutkonserven waren keine Metalldosen, sondern PVC-Beutel.

Gänzlich ungemütlich wurde es, als die Polyurethane ihren Dienst versagten. Den Schuhsohlen folgte ein beträchtlicher Teil der Isolierung vieler Häuser. Als aller Kunststoff schon zerstört schien, gaben auch noch einige der modernen Brücken nach, die aus einer Mischung von Stahl und Elastomer gefertigt waren. Da erschien es nur noch als eine grausame Pointe, als inmitten der Zerstörung ein Deich auf Sylt brach, dessen Steine mit Polyurethan verklebt waren. Niemand interessierte sich zu diesem Zeitpunkt noch für die Flugzeuge, deren Außenhaut aus Polyphenylensulfid zerbröckelte. Schmerzhaft war dagegen noch, das auch die Pressspanplatten in sich zusammenfielen.

In den Jahren nach der Katastrophe rappelte sich die Menschheit wieder hoch und begann, Stück für Stück die zerstörte Technologie mit anderen Materialien wieder aufzubauen. Statt in Supermärkte gehen die Menschen wieder zum Gemüsehändler oder Fleischer. Sie kaufen Milch in Glasflaschen und Nudeln in Pappkartons. Fleisch und Käse schlägt man in altmodisches gewachstes Papier ein. Bunte Verpackungen sind mangels billiger Lacke so gut wie verschwunden. Ein leidiges Thema sind die Naturleime, die man nur aufwendig verarbeiten kann. Tesa und Uhu sind moderne Legenden. Taschenbücher sind zerfallen, alte Buchbinder hat man eilig aus der Rente zurückgerufen. Und kurze Röcke sieht man nur noch im Hochsommer.

Kabel werden wieder oberirdisch auf Porzellanglocken verlegt, in trockenen Räumen ummantelt man sie notdürftig mit ölgetränktem Papier. Filme, Tonbänder oder optische Datenspeicher gehören der Vergangenheit an, aber zum Glück lassen sich Informationen heute digital speichern: Festplatten, USB-Sticks oder MP3-Player kann man auch ohne Kunststoffe bauen. Daten überträgt man per Satellit, Filme wirft man mit digitalen Projektoren an die Wand. Ein Problem ist die Konstruktion bezahlbarer Computer. Wie baut man integrierte Schaltkreise oder Leiterplatten ohne Fotolacke oder Epoxidharz? Immerhin gibt es erste Versuche mit Keramik, ein billiges Massenprodukt ist aber noch in weiter Ferne.

Spritzen werden wieder aus Glas und Metall gefertigt, allerdings ist das Sterilisieren sehr aufwendig, und diagnostische Labortests sind viel teurer als früher. Ungelöst ist noch immer das Problem, wie sich Katheter oder gar künstliche Adern und Herzklappen herstellen ließen. In den Labors benutzt man wieder Kulturplatten und Gefäße aus Glas. Die Reaktionsgefäße und Pipetten der Molekularbiologen sind allerdings so winzig, dass die Reinigung und Wiederverwendung sehr schwierig ist.

Autos baut man wieder ganz aus Metall und Holz. Sie sind dadurch schöner, aber auch schwerer und teurer geworden. Ein Problem sind die Reifen. Die Produktion von Naturkautschuk ist zwar wieder in vollem Gange und zerstört die letzten Regenwälder, der Bedarf ist dennoch nicht annähernd gedeckt. Kautschuk ist für wirklich wichtige Einsätze rationiert: für Kondome etwa und für die Dichtungen der neuen, teuren Kühlschränke und Waschmaschinen. Auch Rollerpumpen in Herz-Lungen-Maschinen funktionieren nur mit einem flexiblen Schlauch.

Das Leben ist unbequemer geworden. Der einstige verschwenderische Komfort ist märchenhafte Vergangenheit, der Begriff »Coffee to go« ist vergessen. Aber nicht alle sind so unglücklich mit der veränderten Welt: Es gibt weniger Arbeitslose, da man wieder viel mehr in Handarbeit herstellt.

Die Menschen haben ihre Liebe zu zeitlos schönem Design wiederentdeckt, und ein Philosoph hat eine neue Achtsamkeit und »Wertigkeit der Lebenswelten« konstatiert. Die Datenschützer sind erleichtert, da es wohl vorerst keine billigen »RFID-Tags« geben wird: Mit den Funkchips aus Polymerelektronik hätte man die Warenströme und das Konsumverhalten effektiv analysieren und kanalisieren können (siehe den Artikel »Das Internet der Dinge«).

Auch einige Umweltschützer und Mediziner können der Katastrophe etwas Gutes abgewinnen: Weil jetzt weniger hormonhaltige Weichmacher aus Kunststoffen entweichen und in unsere Nahrung dringen, so argumentieren sie, müsste es bald weniger Krebserkrankungen und Herzinfarkte geben – und die Menschen könnten wieder fruchtbarer werden.

Leidtragende sind die Elefanten in Afrika: Billard- und Klavierspieler auf der ganzen Welt gieren wieder nach Elfenbein. Jubel herrscht dagegen unter Wasser. Die riesigen Kunststoffnetze der Hochseefischer gibt es nicht mehr, und die Weltmeere sind endlich wieder frei von Plastikmüll. In den Jahren vor dem Zusammenbruch hatte es schon Gewässer gegeben, in denen mehr fein vermahlene Plastikpartikel als Kleinstlebewesen im Wasser schwammen. Alle Tiere, die das Seewasser nach Plankton durchkämmen, aber keine Kunststoffe verdauen können, sind durch den Rückschritt der Menschheit vielleicht ihrer eigenen Katastrophe entgangen.

Der mysteriöse Plastikfresser ist wieder verschwunden. Als alle Kunststoffe vertilgt waren, ist er vermutlich ausgestorben.


Dieser Text stammt aus einem PM-Magazin


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